Die Rettung der akademischen Medizin vor der Obsoleszenz

Shahrokh Shariat | © feelimage / F. Matern
Shahrokh Shariat | © feelimage / F. Matern

Oder: Wie ein grundlegender Paradigmenwechsel zur Überlebensfrage der Lehrkrankenhäuser wird, und warum das Engagement der Mitarbeiter ein Schlüsselfaktor ist

Die akademische Medizin in Österreich ist ernsthaft bedroht. Die Lehrkrankenhäuser und medizinischen Universitäten sehen sich mit einer schwindenden klinischen Unterstützung, versiegenden Forschungsgeldern und steigenden Kosten für Forschung und Lehre konfrontiert. Um diese Herausforderungen zu meistern, muss sich die akademische Medizin bei ihren Kernaufgaben disruptive Innovationen zu eigen machen. Im Folgenden ein paar Ansätze, die in einem Strategieplan enthalten sein könnten, um die akademische Welt vor der Obsoleszenz zu bewahren – zumindest vorerst.

1. Wie wir lehren

Das medizinische Wissen verdoppelt sich etwa alle fünf Jahre. Für Ärzte ist es dadurch eine dauernde Herausforderung, auf dem aktuellsten Stand zu bleiben. Es stellt sich die Frage: Lehren wir als Mediziner die nächste Ärztegeneration Fertigkeiten oder Fachkompetenzen? Wenn wir Erstere lehren, sieht die akademische Medizin der Obsoleszenz entgegen. Legen wir jedoch den Schwerpunkt auf die Fachkompetenzen, ist unsere Mission nachhaltig, denn Fertigkeiten ermöglichen es Menschen nur, auf bestimmte, wohlverstandene Gegebenheiten zu reagieren. Fachkompetenzen hingegen befähigen zu Antworten auf hochgradig komplexe, dynamische und unbeständige Situationen.

Die Lerninhalte werden, wenn die Studierenden ihre Ausbildung beenden, größtenteils veraltet sein. Die nächste Ärztegeneration muss deshalb die Fachkompetenzen von Teamplayern, Pädagogen und Problemlösern aufweisen und bereit sein, lebenslang zu lernen.

2. Wie wir forschen

Eine weitere Triebfeder der Disruption in der akademischen Medizin sind die Änderungen des Forschungsgeschehens. Das Beschaffen von Forschungsgeldern wird zunehmend kompetitiver und schwieriger. Für die meisten medizinischen Hochschulen werden dadurch herkömmliche Forschungsmodelle ineffizient.

Eine disruptive Technologie in der Forschung sind „Big Data“. Dazu ein Beispiel. Die dreidimensionale Struktur einer bestimmten Retrovirusprotease wurde 2011 identifiziert, nachdem sie den Wissenschaftern für mehr als ein Jahrzehnt verborgen geblieben war. Die Aufklärung der Struktur erfolgte nicht durch einen Rechner, einen einzelnen Wissenschafter oder eine Forschergruppe in einem Labor. Die Struktur entschlüsselte vielmehr eine Gruppe von Spielern, die in der Cloud mit einem Programm namens Foldit arbeiteten. Computerwissenschafter an der University of Washington hatten es innerhalb von nur drei Wochen entwickelt. Diese Möglichkeit der Kooperation stellt die gängige Definition und die aktuellen Finanzierungsmodelle der Forschung infrage. Ganz zu schweigen von der Frage, wem die Anerkennung zuteil wird. Sie weist jedoch deutlich überlegene Skaleneffekte auf.

3. Wie sich Mitarbeiter engagieren

Beispiele aus der Geschäftswelt zeigen, dass Unternehmen Disruption überstehen, indem sie beweglich, experimentierfreudig und problemorientiert sind und sich nicht auf bestimmte Lösungen festlegen. Akademische Gesundheitszentren können ihre Vorrangstellung und ihre Lebensfähigkeit nur erhalten, indem sie die bevorstehenden und unvermeidbaren Veränderungen direkt aufgreifen, statt traditionellen Strukturen, Kulturen und Abläufen verhaftet zu bleiben.

Wie die Debatten der vergangenen Monate zeigen, haben Ärzte ihre innere Übereinstimmung mit der Leitung der Krankenhäuser und der politischen Führungsebene verloren. Dieser Verlust an Identifikation führt zur Ernüchterung – Visionen, Ziele und Vertrauen gehen verloren. Daraus resultiert letzten Endes für Patienten eine schlechtere Versorgungsqualität. Einen Schuldigen gibt es nicht, es handelt sich schlicht um eine natürliche Reaktion auf die Umstände. Wollen wir diesen Negativkreislauf jedoch durchbrechen, müssen wir dafür sorgen, dass die Mitarbeiter das Gefühl haben, unabkömmlich zu sein, und wieder an ihre höhere Berufung glauben. Im Ergebnis wird dies zu einer höheren Qualität der Gesundheitsversorgung führen – und zu finanziellen Erträgen.

Die Krise als Chance

Die Krankenhaussysteme in vielen Staaten stecken in einer Krise. Krisen stellen jedoch Chancen dar. Zu den vielen Veränderungen, die die neuen Arbeitszeitgesetze eingeleitet haben, gehört auch der Wandel hin zu einer kostengünstigeren Beschaffung. Für den Krankenanstaltenverbund (KAV) in Wien zum Beispiel wird die Aufgabe nun darin bestehen, die Effizienz zu steigern, woraus sich – hoffentlich – eine Verbesserung der klinischen Prozesse und somit eine qualitativ hochwertige Patientenerfahrung ergibt. Das Ergebnis hängt letztlich allerdings von dem Engagement, der Leistungsbereitschaft und den Sachkenntnissen der Mitarbeiter eines jeden Krankenhauses ab. Diese haben wiederum einen enormen Einfluss auf die Gesamtpatientenerfahrung.

Ich habe nie verstanden, warum es im Gesundheitswesen keine Service-Gewinn-Kette gibt, wie man sie in anderen Branchen seit Jahrzehnten kennt. Meiner Ansicht nach müssen Krankenhäuser eine motivierende und hochleistungsorientierte Arbeitserfahrung schaffen. Das würde nicht nur die Patientenzufriedenheit, sondern auch die Ergebnisse hinsichtlich der Versorgungsqualität verbessern.

Wettbewerb um Mitarbeiter

Derzeit stellt dies jedoch für viele Krankenhäuser eine Herausforderung dar. Immer weniger unserer Mitarbeiter sind engagiert. Bei einem Großteil der Mitarbeiter aus allen Belegschaftssegmenten herrscht irgendwie das Gefühl, von dem Krankenhaussystem und dessen Zielen abgekoppelt zu sein und nicht entsprechend dabei unterstützt zu werden, die eigene Arbeit gut zu machen.

Studien belegen auch einen engen Zusammenhang zwischen dem Engagement der Mitarbeiter und der Wahrscheinlichkeit, ob sie bei diesem Arbeitgeber bleiben. Schon jetzt wetteifern zahlreiche Krankenhäuser vor allem im Ausland um Personal, dessen Zustrom insbesondere in den klinischen Bereichen versiegt. Eine Stärkung des Engagements bietet deshalb diesen Krankenhäusern einen weiteren, wichtigen Vorteil.

Wie wir Führung zeigen

Was kann die Führungsebene eines Krankenhauses nun tun, um das Engagement der Belegschaft zu steigern und das Fundament für eine eigene Wertschöpfungskette zu legen? Erstens müssen wir die Probleme exakt „diagnostizieren“. Zweitens müssen wir die spezifischen Einflussfaktoren in verschiedene Handlungen und Verhaltensweisen übersetzen, die realistisch, bedeutungsvoll und nachhaltig sind. Wie in der Medizin im Allgemeinen wird eine Diagnose ohne entsprechende „Behandlung“ auch hier zu keiner nachhaltigen Besserung führen.

Die Führungsebene selbst muss das Unternehmen wirksam wachsen lassen. Sie muss ein ehrliches Interesse am Wohlbefinden der Mitarbeiter zeigen, sich kohärent zu den Schlüsselwerten des Unternehmens verhalten und in Bezug auf die geleistete Arbeit Vertrauen und Zuversicht zeigen. Die Mitarbeiter müssen verstehen, welche Unternehmensziele die Einrichtung verfolgt, welche Schritte erforderlich sind, um diese zu erreichen, und inwiefern ihre Tätigkeiten dazu beitragen, dies zu verwirklichen.

Engagement steigern

Wir müssen Entscheidungen treffen, die eine motivierende Arbeitserfahrung zu einem inhärenten Bestandteil der Einrichtung machen. Das Gesundheitssystem sollte etwa ein Fünfjahresziel in puncto Engagement festlegen. Hierdurch würde gewährleistet, dass alle an einem Strang ziehen und jeder für dieselben entscheidenden Verhaltensweisen verantwortlich ist.

Viele Führungskräfte werden bezweifeln, dass es möglich ist, in einem Umfeld knapper werdender Budgets und strengerer Kostenkontrollen das Engagement zu steigern. Ich hingegen meine: Wenn die Mitarbeiter davon überzeugt sind, dass ihre Einrichtung eine qualitativ hochwertige Versorgung tatsächlich wertschätzt und sie bei ihrer Arbeit wirklich die benötigte Unterstützung erfahren, sind sie seltener krank, haben weniger Arbeitsausfälle und ihre Patienten sind zufriedener. Zusätzlich sind die gesundheitsbezogenen Ergebnisse besser.

Motivierte Mitarbeiter

Weitgehend dieselbe Dynamik lässt sich in Bezug auf die Qualitätsergebnisse beobachten. Dabei darf die Verwaltung jedoch nicht vergessen, dass Patienten von den Mitarbeitern versorgt werden. Es gilt, diese Mitarbeiter für Verhaltensweisen und Fertigkeiten zu motivieren, die die klinische und akademische Exzellenz vorantreiben. Dies und eine positive Patientenerfahrung werden als Schlüsselfaktoren darüber entscheiden, ob ein Krankenhaus in diesem neuen Umfeld floriert – oder überhaupt überlebt. (Shahrokh F. Shariat, 13.5.2016) – derstandard.at/2000036026242/Die-Rettung-der-akademischen-Medizin-vor-der-Obsoleszenz

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