Runter vom „hohen Ross“ im Gesundheitswesen

Shahrokh Shariat | © feelimage / F. Matern
Shahrokh Shariat | © feelimage / F. Matern

Ein vierdimensionaler Rahmenplan könnte helfen, dem Transformationsprozess neuen qualitativen Schub zu geben – zum Nutzen der Patienten und der Ärzte

Die medizinischen und technologischen Fortschritte sind erstaunlich – und trotzdem kann das Gesundheitswesen seinen Versprechen nicht immer nachkommen. Denn die harte Arbeit und die besten Absichten von einzelnen Ärzten sind angesichts der wachsenden Komplexität heute einfach nicht mehr ausreichend für jederzeit effiziente und hochwertige Behandlungen. Um das Gesundheitswesen wieder ins Lot zu bringen, bedarf es vielmehr einer grundlegenden Transformation – weg vom System, das um einzelne Ärzte aufgebaut ist, hin zu einem, das sich auf das Team sowie den Wert und Nutzen für die Patienten konzentriert. 

In der Tat wird uns Ärzten vermittelt, dass wir neue organisatorische Strukturen, Arbeitsweisen und Leistungsziele einfach zu akzeptieren hätten. Gleichzeitig kämpfen wir täglich mit einem schier endlosen Strom an Patienten und hören dabei ständig, dass unsere Bemühungen – egal, wie viel wir leisten – nicht ausreichen. Wir durchlaufen in unterschiedlichem Ausmaß verschiedene Stadien von Frustration. Viele sind sogar bei Wut angelangt.

Optimismus und Motivation

Wie können wir uns nun in Anbetracht dieser Ängste als Ärzte am besten in die Umgestaltung der Gesundheitsversorgung einbringen? Ich glaube, es gilt besonders, auf unsere Reserven an Optimismus, Mut und Widerstandsfähigkeit zurückzugreifen. Weiters müssen wir ein Verständnis für Verhaltensökonomie und Sozialkapital entwickeln, um Ergebnisse und Effizienz steigern zu können. Es könnte sinnvoll sein, einen Rahmenplan in Anlehnung an die Schriften des Ökonomen und Soziologen Max Weber zu verfolgen: gemeinsame Zielsetzung, Eigeninteresse, Respekt und Tradition. Vielleicht können wir mit diesen Motivationshebeln die Ärzte ins Boot holen.

Patient oder Arzt – falscher Kundenfokus

Was genau wünschen sich Führungskräfte in Spitälern von ihren Ärzten? Hier ist ein Blick auf private Krankenhäuser aufschlussreich, da ihre Zahl als Antwort auf das sich verändernde Gesundheitswesen in unserem Land zunimmt. Private Krankenhäuser erwarten von ihren Ärzten Loyalität – wie etwa die Überweisung der meisten oder all ihrer Patienten an ihre jeweilige private Institution. Das erhöht deren Umsatz. Die Administration eines privaten Spitals sieht ihre wahren „Kunden“ nicht in den Patienten, sondern vielmehr in Ärzten, die Patienten liefern. Mit den Ärzten gemeinsam an der Senkung von Kosten oder der Verbesserung von Qualität zu arbeiten, wird zwar als wichtig angesehen – ist aber eindeutig weniger wichtig als Umsatzwachstum.

Spitäler und Ärzte können nicht länger nur kurzfristig die Einnahmen maximieren, sondern müssen sich auf eine langfristige Strategie sowohl zur Verbesserung der Einnahmen als auch zur Kostensenkung konzentrieren – bei gleichzeitiger Wertsteigerung für die Patienten. Ein Lösungsansatz wäre hier zum Beispiel der Fokus auf eine gemeinsame Zielsetzung.

„Veränderungswirbel“ – und Belohnung

Die zuvor erwähnte Adaption von Max Webers „Typenbildung sozialen Handelns“ beschreibt vier Motivationsinstrumente, die Führungskräften helfen können, Ärzte in die Neugestaltung des Gesundheitswesens einzubinden. Viele Diskussionen zum Gesundheitswesen behandeln dieser Tage hauptsächlich die Probleme – in die Höhe schnellende Kosten und schwankende Qualität. Um Ärzten die Ängste zu nehmen, was sich für sie durch eine Neugestaltung des Gesundheitssystems verschlechtern könnte, müssen wir verdeutlichen, was für den – zwar unvermeidlichen, aber vorübergehenden – „Veränderungswirbel“ als Belohnung winkt: ein optimiertes Gesundheitswesen für die Patienten.

Hervorragende Leistung muss sich auch auszahlen

Mediziner lassen sich – wie die meisten Arbeitnehmer – auch durch Jobsicherheit motivieren. Dieses durchaus verständliche Eigeninteresse kann entsprechend kanalisiert werden, um Engagement auf verschiedene Arten zu bestärken. Bei einem Modell in den USA habe ich gesehen, dass bis zu 20 Prozent des potenziellen Gehalts von Ärzten von der Erbringung ihrer Leistung abhängen können – gemessen an bestimmten Zielen oder auch daran, wie sie sich im und als Team beweisen. So werden urologische Chirurgen etwa danach entschädigt, wie verlässlich ihre Schlüsselprozesse sind – etwa diverse Screenings oder die Verringerung von postoperativen Komplikationen. Solche Leistungsanreize zielen darauf ab, Führungsfähigkeiten und Zusammenarbeit zu honorieren und alle zu motivieren, sich für eine Optimierung der PatientInnenversorgung einzusetzen.

In unserem öffentlichen Gesundheitssystem erhalten Ärzte hingegen ein fixes Gehalt – in der Überzeugung, dass finanzielle Anreize möglicherweise negative Konsequenzen zur Folge haben könnten. Aber auch dafür ließe sich Vorsorge treffen: Einige US-Spitäler stellen Ärzte auf Basis von Einjahresverträgen an und unterziehen diese jährlichen Leistungsbeurteilungen, zum Beispiel an der Cleveland Clinic in Ohio. Von den Ärzten wird dies nicht nur als Chance gesehen, Feedback zu erhalten, sondern auch als Gelegenheit, sich mit Krankenhausführungskräften über Verbesserungsmöglichkeiten zu beraten. Ich bin überzeugt, dass solche Vorgehensweisen nachhaltig wirksam sein können – jedoch nur, wenn sie angewandt werden, um Ziele voranzutreiben, die mit der gemeinsamen Zielsetzung übereinstimmen.

Ergebnisse messen und transparent machen 

Zu weiteren möglichen Motivationsimpulsen zählt der Ansatz der Ergebnismessung. Ärzte wünschen sich ein positives Feedback und sind zudem bestrebt, den Respekt ihrer Kollegen nicht zu verlieren. Einige Gesundheitsorganisationen veröffentlichen Daten individueller Qualitätsleistungen von Ärzten sogar auf ihren Websites. Für Ärzte ist das Wissen um die öffentliche Wahrnehmung ihrer Leistung jedenfalls eine starke Motivation.

Die University of Utah Health Care in den USA nützte diese Art der Transparenz, um bessere Bewertungen von Patienten zu erreichen. Zuerst kommunizierten Führungskräfte die Daten der Patientenbewertung der einzelnen Ärzte mit diesen persönlich und vertraulich. In einem weiteren Schritt wurden die Daten intern so geteilt, dass die Ärzte untereinander die Bewertungen und Kommentare ihrer jeweiligen Patienten sehen konnten. Schließlich wurden diese Angaben – positive wie negative – für alle Ärzte ersichtlich auf der Website veröffentlicht. Je mehr die Transparenz zunahm, umso besser wurde die Gesamtleistung. Ein Schlüssel zu Utahs Erfolg mit diesem Programm liegt in seiner schrittweisen Einführung, was es den Ärzte erlaubte, sich an jede weitere Stufe zu gewöhnen und sich zu verbessern. – derstandard.at/2000046202978/Runter-vom-hohen-Ross-im-Gesundheitswesen

Identität und Tradition machen stolz

Wenn Ärzte ihre Zugehörigkeit zu einer Gesundheitsorganisation schätzen, versuchen sie, an den Standards und Traditionen dieser Organisation festzuhalten. So befolgen etwa Ärzte der Mayo Clinic seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich deren Dresscode – Krawatten für Männer und Strümpfe für Frauen. Die Mayo Clinic hat zudem eigene Standards für die Kommunikation ihrer Ärzte untereinander und dafür, wie diese mit Patienten zu interagieren haben. Die symbolische Aussage ist eindeutig: „Es gibt eine ‚Mayo-Art‘, Dinge zu tun. Fangen Sie erst gar nicht bei uns an, wenn Sie nicht bereit sind, dies kompromisslos zu akzeptieren.“

Die Standards und Traditionen werden in aufeinander abgestimmte Behandlungsprozesse „übersetzt“, die von Patienten hoch geschätzt werden und Ärzte mit Stolz erfüllen. Das ist auch einer der Hauptgründe dafür, dass es Mayo gelingt, viele ihrer Studierenden und Assistenzärzte während ihrer gesamten Berufslaufbahn für sich zu engagieren.

Runter vom hohen Ross, rein ins gemeinsame Boot

Eine nachhaltige Transformation oder Neuorientierung des Gesundheitswesens erfordert die Bereitschaft, Versorgungsleistungen auf die Bedürfnisse von Patienten auszurichten. Sie bedeutet vor allem auch das Ende des Status quo samt seinem obsoleten „hohen Ross“. Natürlich wird es eine Herausforderung darstellen, Ärzte zu überzeugen, auf diese strategische Veränderung „aufzuspringen“, besonders jene, die über viele Jahre im alten System praktiziert haben. Jedoch können wir nicht auf die Pensionierung ganzer Ärztegenerationen warten.

Ärzte – auch die alte Garde – für diese Sache zu gewinnen, ist eine Managementherausforderung, die in Angriff genommen werden muss. Wenn dies gelingt, wird deren Begeisterung äußerst bereichernd für die neue gemeinsame Vision sein. Denn Ärzten ist es schließlich ein fundamentales Anliegen, den an sie als Gesundheitsversorger gestellten hohen Erwartungen durch bestmögliche Ergebnisse für alle ihre Patienten gerecht zu werden. (Shahrokh F. Shariat, 21.10.2016)

Wir sind für sie da.